Viele Grüne, gerade auch Neumitglieder, haben in den letzten Tagen verstört auf die grünen Presse-Statements zur Impfpflicht reagiert. Diese breite Verwunderung und das teilweise auch große Unverständnis sind gut erklärbar, denn 74% der Menschen in den Alten Bundesländern und sogar 90% der Menschen in den Neuen Bundesländern sprechen sich in diesen Tagen für eine Masern-Impfpflicht aus. Warum also sind die Grünen dagegen? Nachdem sich neben Spahn und Lauterbach nun auch Franziska Giffey für eine Impfpflicht stark macht hier der Versuch, das ganze Thema mit Fakten und Argumenten ein bisschen besser für grüne Mitglieder aufzuarbeiten, damit das Thema einerseits verständlicher wird und man andererseits mit besseren Argumenten die grüne Position verteidigen oder auch ablehnen kann.

Ein viel gehörter Vorwurf an die gesamte Debatte ist, dass sich Diskussionen zur Impfpflicht in Deutschland in großer Regelmäßigkeit wiederholen und ihre inhaltliche Relevanz gering sei. Dieser Vorwurf ist problematisch, denn es stimmt zwar, dass die Diskussion über die Impfpflicht alle Jahre wiederkehrt – und auch in diesem Blog wurde schon 2015 die grüne Position zur Impfpflicht diskutiert. Einerseits waren diese Diskussionen aber immer ausgelöst durch konkrete Masern-Erkrankungswellen mit oft auch kindlichen Todesfällen und es wäre schlimm, wenn eine Gesellschaft angesichts vermeidbarer Kinder-Todesfälle nicht über Konsequenzen diskutieren würde. Andererseits hat die aktuelle weltweit steigende Zahl an Masern-Infektion eine erschreckende, neue Qualität:

Während die internationalen Maserninfektionszahlen jahrelang rückläufig waren, steigen sie seit 2016 weltweit wieder an: Insgesamt starben bereits 2017 110 000 Menschen weltweit an Masern. 2018 waren es allein in Europa schon 72 tote Kinder, und die Infektionszahlen für die ersten Monate des aktuellen Jahres liegen noch höher als 2018. In Madagaskar sind seit dem vergangenen Herbst knapp 1000 Menschen an Masern gestorben. Japan kämpft mit dem schlimmsten Ausbruch seit langem und in den USA werden nicht geimpfte Kinder wegen zahlreicher Ausbrüche nun vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Auf den Philippinen sind seit Jahresbeginn bereits 146 Menschen an Masern gestorben. UNICEF hat angesichts eines Anstiegs der Infektionszahlen in 98 Nationen alle Regierungen aufgefordert, wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Masern zu ergreifen. 

Mit diesem Wissen um die internationale Situation im Hinterkopf sollten wir uns immer vor Augen halten, dass wir nicht die einzige Gesellschaft sind, die eine Impfpflicht diskutiert, sondern eingebettet sind in einen internationalen Kraftakt im Kampf gegen vermeidbare Todesfälle. Denn für alle, die nicht geschützt sind, führt eine Masernerkrankung in einem von ca. 1000 Fällen trotz maximaler medizinischer Intensivtherapie zum Tod – ohne hochentwickeltes Gesundheitssystem ist der Anteil der tödlichen Masern-Infektionen deutlich höher. 

Natürlich ist es schwer zu entscheiden, was richtig ist und was falsch. Schließlich müssen wir als Gesellschaft, als politische Parteien die Schutzpflicht des Staates aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aller Menschen abwägen gegen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit derjenigen, die potentiell erkranken und eventuell auch an einer Maserninfektion sterben. Als wäre das noch nicht komplex genug, müssen wir auch abwägen, welche Maßnahmen nachhaltig und wirksam gesellschaftlich umzusetzen sind als andere. An dieser Stelle sollten wir einen Blick auf häufige Argumente gegen eine Impfpflicht werfen:

1) „Eine Impfpflicht für Kinder erreicht nicht jene Erwachsenen, die nicht ausreichend geschützt sind.“

Das ist zweifelsohne richtig. Wenn man sich aber anschaut, dass auch beispielsweise der Anteil der Kinder, die zum Schuleintritt eine zweite Masern-Impfung erhalten haben, auch bei uns teilweise deutlich unter den erforderlichen 95% liegt, dann ist eine Steigerung der Impfraten auch bei Kindern notwendig und wäre ein Anfang. Ganz unbenommen davon kann man jedoch auch eine verpflichtende Impfung für ungeschützte Erwachsene fordern, eine dadurch erreichte Steigerung der Schutzrate bei Erwachsenen wäre zweifelsohne sehr sinnvoll.

2) „Verpflichtende Impfungen senken die Impfquoten für andere Impfungen, die nicht verpflichtend aber empfohlen sind.“

Bei diesem Punkt wird häufig eine Arbeit von Cornelia Betsch, einer Psychologin aus Erfurt angeführt, die studentische Proband_innen am Computer Planspiele durchklicken ließ und veröffentlichte, dass sich in diesem Experiment die Raten für empfohlene, freiwillige Impfungen erniedrigten, wenn für einen Teil von Impfungen eine Impfpflicht galt. Man kann sich sehr gut streiten, ob dieser experimentelle Aufbau nicht auch erhebliche Schwächen hat, um als ultimatives Argument in der aktuellen politischen Debatte verwendet zu werden (gerade auch wenn man vergleicht, dass im Experiment Nebenwirkungen als 40% so schwerwiegend wie eine mögliche Infektion gewichtet wurden). Vor allem aber negiert dieses Modell die große Zahl verschiedener Einflussfaktoren die entscheiden, ob ein Mensch geimpft wird oder nicht. Was auch nicht beleuchtet wird: Wenn einzelne Erkrankungen weltweit besonders viele Opfer fordern und sich auch Deutschland ihrer Ausrottung verschrieben hat, wäre dieser Effekt dann nicht unter Umständen hinnehmbar? Nicht zuletzt spricht Evidenz aus realen Daten aus Ländern mit Impfpflicht auch dafür, dass durch eine Impfpflicht zumindest der Anteil der Impfgeschützten deutlich gesteigert werden kann. 

Ein besseres Argument gegen eine Impfpflicht wären Länder wie Schweden: Sie erreichen hohe Impfraten ohne Pflicht. Außerdem können populistische Parteien wie in Italien Impfpflichten im Wahlkampf instrumentalisieren und eine politische Rücknahme der Impfpflicht erreichen.

3) „Wir brauchen eine Stärkung des Gesundheitsdienstes statt eine Pflichtimpfung.“

Das kann man prinzipiell fordern – denn beispielsweise auch Schweden erreicht dank gesonderter Schulpfleger_innen ja sehr hohe Impfquoten. Außerdem ist beispielsweise die schwedische Gesellschaft Impfungen gegenüber sehr aufgeschlossen eingestellt. Die Krux ist jedoch, dass man das, was in einem Land funktioniert, beim Thema Impfen aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägungen etc. nicht immer auf ein anderes Land übertragen kann und es zumindest fraglich ist, ob eine derartig erfolgreiche Struktur angesichts der fehlenden Attraktivität der deutschen Gesundheitsämter und der deutschen Selbstverwaltung im Gesundheitssystem wirklich erfolgreich und zeitnah eingeführt werden könnte.

Spannend ist auch, dass einige Grüne noch 2015 mehr verbindliche Impfberatung für Eltern als Antwort auf Masern-Infektionswellen einforderten – anschließend wurde in Deutschland tatsächlich eine neue Impfberatungspflicht für Eltern eingeführt, die jedoch keinerlei spürbare Effekt gezeigt hat. Die deutsche Debatte könnte aktuell auch davon profitieren, diese wenig erfolgreiche Maßnahme der letzten Jahre zu diskutieren.

4) “Eine Impfpflicht wäre eventuell nicht vereinbar mit dem Grundgesetz.“

Bis 1976 existierte in der BRD eine Impfpflicht für Pocken, eine Impfpflicht ist also sehr wohl prinzipiell mit dem Grundgesetz vereinbar. In der Konsequenz sind die Pocken übrigens die einzige Erkrankung, die jemals erfolgreich weltweit ausgerottet werden konnte. Damit ist eine Impfpflicht historisch die einzige Methode, die erfolgreich zur Ausrottung einer Infektionskrankheit führte. Aber auch wenn man sich nicht zur Forderung einer allgemeinen Impfpflicht durchringen kann, gibt es wirkungsvollere Alternativen als die aktuellen Maßnahmen:

Gibt es Alternativen zur Impfpflicht?

Ja, die gibt es. Es kann nur niemand garantieren, dass diese auch in Deutschland funktionieren würden. Ein diskussionswürdiges Beispiel ist Australien, das Kindergeldzuschläge und Familienfreibeträge bei der Steuererklärung nur dann gewährt, wenn alle Kinder vollständig geimpft sind. Damit konnte die australische Gesellschaft ihre Impfquoten von 75 auf 94% steigern. Das wäre zumindest ein Modell, das man in die deutsche Debatte einfließen lassen könnte.

Stattdessen diskutieren wir hier in Deutschland aktuell vor allem den US-amerikanischen Lösungsansatz, der verpflichtende Impfungen für den Besuch einer öffentlichen Kita oder Schule vorsieht: Von den USA kann man jedoch lernen, dass das viele Ausnahmeregelungen notwendig macht und wiederkehrende Ausbrüche in besonders anfälligen Schulen nicht verhindern kann.

Wie können wir besser und zielführender diskutieren?

Ist es kontraproduktiv, dass das Thema Impfen aktuell mit Spahn verbunden ist? Auf jeden Fall. Ist es verständlich, dass man aufgrund der Vielzahl schlechter Spahn-Vorstöße der letzten Monate einen Abwehrreflex entwickelt hat auf alles, was von Spahn kommt? Definitiv. Das bedeutet aber nicht, dass wir es uns bei dieser Frage einfach machen können, denn dafür geht es um zu viel.

Eine Impfpflicht kann nur das letzte Mittel sein. Aber man sollte diese ultima ratio nicht ausschließen angesichts der einerseits potentiell großen Zahl an Todesfällen, der bislang nicht sehr erfolgreichen Maßnahmen zur Steigerung der Zahl der geschützten Menschen in Deutschland und andererseits den weltweit massiv ansteigenden Infektionszahlen, auch in Europa. Selbst wenn man sich dazu nicht durchringen kann, sollte man wahrscheinlich potentiell wirksamere Mittel zur Steigerung der Impfraten in die Debatte einspeisen als lediglich eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes zu fordern. Vor allem sollten wir Grüne auch auf Landesebene zeigen, dass es uns mit einem besseren Schutz der Menschen vor vermeidbaren Todesfällen durch bessere Impfquoten Ernst ist und wir die Impfraten in unserer Gesellschaft nachhaltig und wirksam auf das notwendige Maß anheben wollen.

 

 

Eine Übersicht über alle EU-Länder und ihre jeweilige Organisation der Impfungen im Kindes- und Erwachsenenalter: https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/vaccination/docs/2018_vaccine_services_en.pdf

Interaktives Info-Tool des RKI zu den Impfraten in allen deutschen Landkreisen: http://vacmap.de/

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