Von keinem Impfstoff wurden in der Geschichte der Menschheit gleichzeitig so viele Dosen benötigt wie von einem Covid19-Impfstoff. Wider Erwarten haben wir auf diesem Weg als Weltgesellschaft schon bedeutende Schritte erreicht: Normalerweise ist Impfstoff-Entwicklung nicht nur vergleichsweise langsam, sie ist oft auch chronisch unterfinanziert. Für Covid19 hingegen konnten und können auch dank immenser Summen öffentlicher Gelder in Rekordzeit mehrere effektive Impfstoffe schon jetzt für die Immunisierung verwendet werden. Diese große Zahl an verfügbaren Impfstoffen unterscheidet die aktuelle Frage der gerechten globalen Verteilung von Covid19-Impfstoffen deutlich von vielen anderen Debatten der letzten Jahre, beispielsweise zu Zwangslizenzen für HIV-Medikamente, bei denen es oft nur um einzelne Wirkstoffe ging. Wir werden unter Umständen sogar schon bald als Weltgesellschaft in die Situation kommen, dass wir aus einer Vielzahl verschiedener Impfstoffe auswählen können, für die es in der Summe große Produktions-Kapazitäten gibt – wir sollten diesen Umstand nutzen, um nicht nur möglichst niedrige, faire Preise für alle Länder zu verhandeln, sondern auch eine global gerechte Verteilung zu gewährleisten und die Hersteller zu einer größeren Transparenz und Kooperation zu verpflichten. Das ist auch deswegen notwendig, weil der aktuell grassierende Impf-Nationalismus  – trotz eigentlich existierender Absprachen für eine global gerechtere Verteilung – leider geeignet ist, das Vertrauen in internationale Kooperationen in der Weltgesellschaft weiter zu erodieren. Damit werden potentiell auch dringend notwendige Kooperationen beispielsweise im Kampf gegen die Klimakrise und das Erstarken autokratischer Regime zusätzlich erschwert. Doch wie erreichen wir eine tatsächlich faire Verteilung der Impfungen? 

Zwangslizenzen

In den letzten Wochen wurde viel über sogenannte “Zwangslizenzen” (compulsory licences) für die Freigabe von Covid19-Imfpstoffen für eine gesteigerte Produktion gesprochen – auch Robert Habeck forderte diese ein, jedoch nicht für Staaten wie Indien oder Südafrika, sondern für Deutschland. Aber was sind eigentlich Zwangslizenzen? Um den Patentschutz eines Medikaments, in unserem Fall eines Imfpstoffs, umgehen zu können, kann man eine Zwangslizenz vergeben. Dafür notwendig ist zum einen ein relevantes öffentliches Interesse, in aktuellen Fall der Gesundheitsschutz, und zum anderen darf dieses öffentliche Interesse  – vereinfacht formuliert – nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können als durch eine Zwangslizenz. Um Zwangslizenzen vergeben zu können müssen Staaten außerdem zuvor über freiwillige Lizenzen mit dem Hersteller verhandeln – das kostet Zeit und kann dazu führen, dass über diese Verträge andere Bedingungen festgeschrieben werden. Dabei bleibt der Patentschutz insgesamt intakt und alle Hersteller, die unter Zwangslizenz produzieren, müssen Lizenzgebühren an den Patentinhaber abführen.

Zwangslizenzen sind außerdem eher für jene Länder eine zielführende Option, die überhaupt die Möglichkeit haben, selbst die benötigten Medikamente bzw. Impfstoffe herzustellen. Das ist beispielsweise in Indien oder Südafrika der Fall, aber gerade in ärmeren oder auch kleineren Ländern nicht, für die auch der Aufwand der Vergabe einer Zwangslizenz teilweise kaum zu stemmen ist. Eine unschöne Wahrheit ist auch, dass auf Länder, die Zwangslizenzen vergeben, in einem hohen Maße Druck ausgeübt wird und sie für diese Handlung zu oft sanktioniert werden, sodass nur wenige Länder tatsächlich diesen Weg gehen können. 

Für den Fall der Covid19-Impfstoffe muss jedoch auch benannt werden, dass eine Zwangslizenz nichts nutzt, wenn die Herstellung eines Impfstoffs derart voraussetzungsreich ist, dass Herstellungskapazitäten kaum in relevanter Größe für eine freie Herstellung zur Verfügung stünden – ein Argument, das insbesondere für mRNA-Impfstoffe durchaus relevant sein dürfte. Bei  der Diskussion von Zwangslizenzen ist auch immer zu beachten, dass Firmen hier sehr schnell darauf verweisen, dass sie ihre Produktionsstandorte sehr schnell ändern würden, wenn bspw. die EU Zwangslizenzen oder weitergehende Maßnahmen unterstützen würde. Deswegen ist hier ein einheitliches Vorgehen der USA, der EU, Japan und vielen weiteren Industrienationen notwendig, um diese Drohungen ins Leere laufen zu lassen. Gleichwohl bedeutet dies auch, dass eine schnelle Einigung auf Zwangslizenzen oder weitergehende Maßnahmen insgesamt wenig wahrscheinlich ist trotz der unvorstellbar großen Gesundheitskrise, in der wir uns aktuell befinden. Eine zugegebenermaßen frustrierende Situation, während täglich weltweit Millionen von Menschen erkranken und ein zu großer Anteil von ihnen stirbt.

Was sind die kurzfristigen Alternativen?

Freiwillige Lizenzen

Teilweise haben Hersteller wie AstraZeneca freiwillige Lizenzen abgeschlossen, beispielsweise mit Indien, das auf große eigene Produktionskapazitäten zurückgreifen kann. Während diese Lizenzen für manche Länder eine gangbare Alternative darstellen bleibt die große Mehrheit der Länder außen vor. Zudem ist das Angebot in der Regel auf die Dauer der Pandemie begrenzent, wobei diese Dauer durch die Unternehmen definiert wird. Freiwillige Lizenzen können vor diesem Hintergrund aktuell nicht in ausreichendem Maß zu einer global gerechten Versorgung für alle Länder beitragen. 

Waiver

Indien und Südafrika haben bei der WTO beantragt, dass statt einzelner Zwangslizenzen mit ihrer Vielzahl an Nachteilen ein genereller”Waiver” erteilt werden soll für alle Covid19-assoziierten Impfstoffe, Medikamente etc. erteilt wird, bis eine globale Herdenimmunität durch Impfung erreicht ist. Das würde bedeuten, dass Patente für die entsprechenden Impfstoffe und Medikamente sowie beispielsweise diagnostische Methoden nicht neu genehmigt und bestehende Patente nicht durchgesetzt würden – damit handelt es sich also um eine deutlich weitreichendere Maßnahme als Zwangslizenzen. Die WTO hat über diesen Antrag bislang nicht entschieden, die Industriestaaten lehnen diesen sehr lautstark, teilweise auch unnötig brüsk ab, ohne gleichzeitig bessere Alternativen aufzuzeigen – dies gilt leider auch für die EU.

Die COVID-19 Vaccine Global Access (COVAX) Facility der WHO

COVAX als Projekt u.a. der WHO soll den Einkauf und die global gerechte Verteilung von Covid-Impfstoffen sichern. Die Organizsation kauft – so der Plan – große Mengen unterschiedlicher Impfstoffe ein und differenziert bei der Weitergabe der Impfstoffe an die Länder die Preise: Je nach wirtschaftlicher Kraft zahlen die von COVAX versorgten Länder einen mittleren oder niedrigen Preis. Covax strebt an, dass alle Nationen vorerst genug Impfdosen für die 20% vulnerabelsten Menschen ihrer Bevölkerung erhalten – ein Ziel, das bereits jetzt als vorerst gescheitert bezeichnet werden darf, denn zu viele Industrienationen, unter ihnen auch Deutschland, haben sich selbst mit enormen Mengen an Impfstoff-Dosen eingedeckt, während COVAX aktuell nur deutlich kleinere Mengen ausliefern kann.

Man kann jedoch argumentieren, dass COVAX aktuell trotzdem die realistischste Option ist, tatsächlich für große Teile der Weltbevölkerung einen Zugang zu Covid19-Impfungen zu gewährleisten. Dafür aber muss die Finanzierung von COVAX auch durch Länder wie Deutschland deutlich verbessert werden und Akteure wie die EU, Deutschland u.a. dürfen die Ziele von COVAX nicht länger durch eigene Verträge hinterlaufen. Außerdem muss COVAX deutlich transparenter arbeiten. Der große Vorteil von COVAX gegenüber Zwangslizenzen oder Waivern: Das Projekt bietet einen Mechanismus gegen Impf-Nationalismus und berücksichtigt auch die Interessen der Nationen, die aufgrund mangelnder eigener Produktionskapazitäten von Zwangslizenzen und Waivern nicht oder nur indirekt profitieren würden. 

Deswegen sollten alle Länder, die jetzt in der WTO mehr oder weniger gut begründet Waiver ablehnen, ihre Zusagen für die COVAX-Allianz deutlich aufstocken. Das kann auch über die Bereitstellung selbst eingekaufter überschüssiger Impf-Dosen geschehen. COVAX kann dabei unter anderem auch ein sehr wirksamer Mechanismus sein, um die Bestrebungen autoritärer Staaten wie China und Russland zu unterminieren, politische Abhängigkeiten durch Impfstoff-Lieferungen auszuweiten. Eine Fortführung der bisherigen Praxis aus unkoordiniertem, egoistischem Horten von Impfstoff-Optionen ohne eine wirklich spürbare Unterstützung für die Mehrheit der globalen Staaten, ihre Bevölkerungen ebenfalls mit Imfpstoff zu versorgen, ist dagegen geeignet, in einer global ohnehin immer instabileren Ordnung die vorhandenen Risse zu Gräben aufzureißen. Nicht zuletzt wäre damit die Coronakrise auch die denkbar schlechteste Blaupause für eine gelingende globale Zusammenarbeit für die Bewältigung der Klimakrise, denn die Coronakrise hat das Potential, zur größten Lernerfahrung der jüngeren Geschichte bez. der Verlässlichkeit internationaler Organisationen und internationaler Solidarität der jüngeren Geschichte zu werden. Wenn wir hier versagen, sind die Folgen auch für andere globale Krisen potentiell immens.

Während es ein Problem ist, dass zu großen Teilen mit öffentlichen Geldern finanzierte Forschung nicht frei verfügbar ist beispielsweise in Europa, bedeutet das für Menschen in der Europäischen Union nicht, dass sie komplett von der Versorgung mit Impfstoff abgeschnitten sind, auch wenn der Bedarf gerade in unserem EU-Nachbarland Tschechien deutlich höher ist als die verfügbaren Impfdosen. Für Menschen in der Mehrheit der Staaten der Welt ist aber genau das der Fall, weshalb eine Lösung für diese Staaten als noch dringender einzuschätzen ist als eine tatsächlich globale Freigabe von Patenten auch in Ländern mit sehr hohem Pro-Kopf-Einkommen.

Nicht zuletzt müssen wir auch deutlich stärker von BioNTech als deutschem Hersteller einfordern, dass er sich aktiv an einer gerechten globalen Verteilung von Covid19-Impfungen beteiligt. Während andere Hersteller wenigstens freiwillige Lizenzen an manche Länder vergeben, ist für BioNTech außerhalb von COVAX kein Engagement bekannt, den eigenen Impfstoff für Länder mit mittleren und niedrigeren Einkommen verfügbar zu machen. Das enttäuscht, auch wenn der BioNTech-Impfstoff sicherlich nicht die Vakzine ist, die sich am besten für eine globale Verteilung eignet. Meldungen über bis zu 80% profit margin für Pfizer/BioNTech sind ein Schlag in das Gesicht der Steuerzahler_innen, die dieses Produkt mit öffentlichen Geldern ermöglicht haben.

Wie können wir vor diesem Hintergrund zukünftig die Medikamenten- und Medizinprodukt-Entwicklung anders als aktuell in der Coronakrise von Anfang an nachhaltiger, global gerechter und trotzdem innovativ gestalten? Dazu kommt bald ein zweiter Text. Denn schon jetzt ist klar: In die jahrzehntelangen Diskussionen um eine global gerechte Verteilung medizinischer Therapien muss mehr Bewegung kommen – auch durch uns Grüne.

Wer weiterlesen möchte:

    – die Pressemitteilung der Access Campaign von Ärzte ohne Grenzen zur Unterstützung des Waiver-Antrags: https://msfaccess.org/india-and-south-africa-proposal-wto-waiver-ip-protections-covid-19-related-medical-technologies

    – der WTO-Antrag auf Waiver durch Indien und Südafrika: https://docs.wto.org/dol2fe/Pages/SS/directdoc.aspx?filename=q:/IP/C/W669.pdf&Open=True

    – das Covid Vaccine Dashboard von Unicef: https://www.unicef.org/supply/covid-19-vaccine-market-dashboard

    – der Antrag der Grünen Bundestagsfraktion zum Thema: https://t.co/vfGGDS4ZrN?amp=1

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